Kammermusik der letzten Jahrzehnte – packend gestaltet
Nicht nur die Preisträger des 5. Berliner Pergamenschikow-Wettbewerbs hinterließen überwältigende Eindrücke
Zu den prominentesten Lehrkräften der Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler gehörte bis zu seinem viel zu frühen Tod 2004 der Cellist Boris Pergamenschikow. Er wurde 1948 in Leningrad geboren. Weltweit hohe Wertschätzung erwarb er sich, nachdem er 1974 den Ersten Preis im Fach Violoncello und eine Goldmedaille im Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb errungen hatte. Sein ganz besonderes Interesse galt dem zeitgenössischen Kammermusikschaffen, das er nach der Übersiedlung in den Westen 1977 auch seinen Schülern an den Hochschulen in Köln, Basel und Berlin nahe brachte. Zu seinem Gedenken riefen die Eisler-Hochschule und die Gesellschaft ihrer Freunde und Förderer 2005 einen mit seinem Namen gekennzeichneten Wettbewerb für Kammermusik ins Leben, der vom 6. bis 8. November dieses Jahres unter der Schirmherrschaft der Witwe seines Namensgebers, Tatjana Pergamenschikow, und des aus Budapest stammenden Pianisten András Schiff zum fünften Male stattfand. Sein Ziel war es erneut, um den vorbereitenden Flyer zu zitieren, „herausragende kammermusikalische Leistungen zu fördern und darüber hinaus das Interesse an zeitgenössischer Musik und deren Hintergründen zu wecken“.
Zur Teilnahme eingeladen waren jeweils maximal – vom Trio bis zum Nonett – zehn in einer Vorauswahl bestimmte Kammermusik-Ensembles aller Musikhochschulen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, deren jedes mit wenigstens einem Violoncello besetzt sein sollte. Gefordert wurde die Auswahl eines oder mehrerer Werke der Zeit nach 1950. Neben deren Live-Darbietung im Galakutschen-Saal des Neuen Marstalls am Berliner Schlossplatz wurde von den Ensemblemitgliedern, die im Höchstfall 30 Jahre alt sein durften, ein sachkundiger Vortrag über Werk(e), Stilrichtung(en), historischen Kontext und Parallelen zu anderen Kunstgattungen (Literatur, Theater etc.) und ein Gespräch mit der Jury erwartet. Bemerkenswerterweise setzte sich fast jedes der zur Mitwirkung ausgewählten Ensembles multinational zusammen. Mehrere Teilnehmer kamen aus Ostasien. Aber auch die Russische Föderation, die Ukraine, Georgien, Länder des Ostseeraums und des Balkans, Österreich, Italien, Frankreich, die amerikanischen Kontinente und sogar Australien waren präsent. Insgesamt nahmen in diesem Jahre nur neun Ensembles am Wettbewerb teil. Drei waren mit der Eisler-Hochschule verbunden, ein weiteres mit der Universität der Künste in Berlin-Charlottenburg. Die übrigen kamen aus den Musikhochschulen von Lübeck, Hannover, Frankfurt a. M., München und Wien. Einige von ihnen zeichneten sich in ganz besonderer Weise dadurch aus, dass sie nach bisher kaum bekannten neuen Kompositionen aus fernen Ländern und Kontinenten suchten.
Überwältigende Eindrücke hinterließen bereits drei der fünf Ensembles, die – mit jeweils einer Stunde Dauer – die beiden Wettbewerbsrunden des Eröffnungstages bestritten. Tief bewegte das Klee Quartett mit den Jenseits-Visionen von György Kurtágs am Ende seines achten Lebensjahrzehnts entstandenen sechs Moments Musicaux und dem Gedenken an den vor wenigen Monaten im Alter von 97 Jahren verstorbenen französischen Komponisten Henry Dutilleux. Von ihm erklang sehr einprägsam seine um die Mitte der 1970er Jahre komponierte Assoziation der Nacht „Ainsi la nuit“. Nicht weniger faszinierte das Risorika-Ensemble mit einem der im Umfeld schwerer Erkrankung entstandenen tief ergreifenden Spätwerke von Dmitri Schostakowitsch, den Sieben Romanzen nach Worten von Alexander Blok für Sopran, Violine, Violoncello und Klavier. Die Kammermusikgruppe Atout würdigte den vor fünf Jahren verstorbenen finnischen Komponisten Pehr Henrik Nordgren mit seinem 2000 entstandenen Streichquintett op. 110, das sich nicht nur auf den Spuren seiner heimatlichen Volksmusik bewegte, sondern sich auch eindrucksvoll zu Bach bekannte.
Auf ganz eigene Art fesselte am zweiten Tag The Mare Trio mit einem Werk der US-amerikanischen Komponistin Stacy Garrop aus den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts und der hinreißend im Geist virtuoser Jazz- und Klezmer-Musikanten dargebotenen Café Music von Paul Schoenfield aus dem Jahr 1986, das ihr 1947 in Detroit geborener Komponist ganz bewusst nicht nur im Kaffeehaus, sondern auch im Konzertsaal gespielt wissen wollte. Auch das Finale mit dem Quartetto Fauves setzte noch einmal auf ganz unterschiedlichen Wegen packende Akzente mit den zwölf Microludes von György Kurtág aus dem Jahre 1978 und dem wahrhaft umwerfenden Jagdquartett des 1973 in München geborenen Jörg Widmann. Nicht vergessen werden dürfen zwei Werke lateinamerikanischer Komponisten aus jüngster Zeit, Francisco Cortès-Àlvares und Gabriela Ortiz, die vom FACHA Quartett aus München zu erleben waren, und das aus der Lübecker Hochschule hervorgegangene Odysseo-Quartett mit Werken von Paul Hindemith und Isang Yun.
Überraschende Entscheidung für die Preisvergabe
Tief zu bedauern bleibt, dass keines dieser hoch anzuerkennenden Ensembles, die sich mit ihrer ganzen Kraft für derartig überragende Werke engagiert haben, mit einem Preis gewürdigt wurde , den sie sehr wohl verdient hätten. Um so mehr überraschte die Entscheidung der Jury für die Vergabe des Preises in Höhe von 10.000 Euro an das mit der Eisler-Hochschule verbundene Trio Korngold. Sie wurde allem Anschein nach nicht sogleich von allen Zuhörern akzeptiert. Selbst im Entscheidungsgremium soll es anfangs noch unterschiedliche Meinungen gegeben haben. Die drei Mitglieder dieses Ensembles, die ukrainische Geigerin Diana Tishchenko, die kroatische Cellistin Kajana Packo und der norwegische Pianist Joachim Carr, hatten sich in der letzten Wettbewerbsrunde mit einem nahezu beispiellosen Kraftakt für Wolfgang Rihms Charakterstück „Fremde Szene II“ engagiert, der die von ihrem Komponisten angestrebte „Liebeserklärung“ an Robert Schumann erheblich zu überfordern, ja geradezu zu sprengen schien. Bei der zweiten Wiedergabe des Werkes im abschließenden Preisträgerkonzert bot sich ein eindeutig nachhaltigerer und überzeugenderer Eindruck. Den drei jungen Künstlern gelang es nun, nicht nur Kraft zu zeigen, sondern auch in die Tiefe zu dringen und etwas von der erschütternden Tragik von Schumanns letzten Lebensjahren nachvollziehbar zu machen, um deren Darstellung es dem Komponisten in diesem Werk nicht zuletzt gegangen war. Von ihm spielte das Amei-Quartett, das sich im vergangenen Jahr in Frankfurt am Main zusammengefunden hatte, in der ersten Wettbewerbsrunde bereits zwei „Fetzen für Streichquartett“ aus den Jahren 1999 und 2004. Es erhielt in diesem Jahre einen Preis für den besten mündlichen Vortrag.
Das Abschlusskonzert wurde eingeleitet mit der Uraufführung zweier Kompositionen, die die beiden Preisträger des Pergamenschikow-Wettbewerbs vor zwei Jahren von ihren Sonderprämien in Auftrag gegeben hatten. Das Trio Onyx, zwei Cellistinnen und ein Schlagwerker, hatten den vielseitig, auch für asiatische Musik, interessierten erfolgreichen Komponisten und Hochschullehrer Johannes Schöllhorn für ein geistvolles „Notturno (lucciole)“ gewonnen. Das Anima Quartet begab sich auf die Fährte der Commedia dell’arte mit einem dreisätzigen Werk, in dem Ana Sokolvic voll Witz und Esprit Charaktergestalten des frühen italienischen Theaters zum Klingen brachte. Der Hauptpreis und der mit ihm verbundene Sonderpreis für einen Kompositionsauftrag waren 2011 geteilt verliehen worden – eine Variante, die nach den inzwischen veränderten Satzungen nicht mehr zur Wahl stehen soll.-
Wolfgang Hanke