Berlin Transit – Einprägsame Ausstellung über die Migranten aus Osteuropa im Jüdischen Museum Berlin
Verheerende Pogrome hatten die einst in Osteuropa lebenden Juden nicht erst durch die deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg zu erleiden. Bereits vor 1900 kam es in der Ukraine, im russisch verwalteten Polen, Litauen und Lettland immer wieder zu Übergriffen, Massenmorden und Vertreibungen, die sich nach den Revolutionen von 1905 und 1917 noch verschärften. Viele der Vertriebenen suchten in Deutschland, ganz besonders in Berlin, Zuflucht, mussten hier aber schon bald vor dem Terror des NS-Regimes erneut die Flucht ergreifen, wenn es ihnen überhaupt gelang, ihr Leben zu retten.
Eine Ausstellung im Berliner Jüdischen Museum gibt bis zum 15. Juli Aufschluss über die politischen und religionsgeschichtlichen Hintergründe dieses tragischen Geschehens. Sie gründet sich auf die bisherigen Ergebnisse der Migrationsforschung am Osteuropa-Institut der Berliner Freien Universität und konzentriert sich auf das Geschehen der Zwischenkriegsjahre vom Untergang des Wilhelminischen Kaiserreiches und der österreichisch-ungarischen Monarchie bis zu den Judenverfolgungen des NS-Regimes. Im Brennpunkt steht Berlin. Es war seit langem Drehscheibe zwischen Ost und West und diente nun auch Zehntausenden von Juden aus Osteuropa als Zufluchtsort und Transitstation auf dem weiteren Fluchtweg nach Frankreich, den Niederlanden, der Tschechoslowakei, Ungarn, Palästina und den USA.
Das Forschungsprojekt „Charlottengrad und Scheunenviertel“ beleuchtet die sehr unterschiedlichen Bedingungen, die die osteuropäisch-jüdischen Migranten im Berlin der 1920er und frühen 30er Jahre antrafen. Wohlhabende Geschäftsleute, Bankiers, Juristen, Ärzte, Künstler, Literaten konnten sich in den gehobenen Wohnvierteln des Berliner Westens niederlassen, vorzugsweise in der gern „Charlottengrad“ genannten Gegend um den Kurfürstendamm. Die weitaus überwiegende Zahl der „Ostjuden“ lebte aber unter oft schwierigsten Bedingungen im „Scheunenviertel“ nördlich vom Alexanderplatz. Es galt weithin als „verrufen“, besaß mit seinen Reminiszenzen an die osteuropäischen „Schtetls“ aber doch eine ganz eigene Atmosphäre und Anziehungskraft.
Die Ausstellung „Berlin Transit“ gibt mit einer Vielzahl von historischen Fotos und Filmmaterial sehr einprägsame, zum Teil tief bedrückende Einblicke in dieses Milieu, lässt Anteil nehmen an den Sorgen und Nöten seiner Bewohner, den Polizeiattacken und Verhaftungen, macht aber auch bekannt mit einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Charlottenburger Großfamilien um den Ölmulti Chaim Kahan und einigen der rund 90 russischen Buch- und Zeitschriftenverleger, die sich während der Inflation erfolgreich in Berlin betätigen konnten.
Die Ausstellung beeindruckt nicht zuletzt durch eine Reihe von Kunstwerken. Tief erschüttert vor allem eine Serie von Aquarellen, in denen Issachar ber Ryback im Gedenken an den Tod seines Vaters Pogrome des Jahres 1919 festhielt. Sie ist nach 88 Jahren erstmals wieder in Berlin zu sehen. Doch auch Arbeiten des Impressionisten Leonid Pasternak, Vater des bekannten Schriftstellers, und des Konstruktivisten Naum Gabo prägen sich ein. Wer hinreichend Zeit mitbringt, kann in einem Audioraum neben Musik des jüdischen Ostens literarische und autobiographische Texte von Ilja Ehrenburg, Simon Dubnow und anderen Zuwanderern hören, die in Zusammenarbeit mit rbb Kulturradio in den Originalsprachen – Russisch, Jiddisch, Hebräisch und Deutsch – aufgenommen wurden.
Maria Brigitte Hanke
erscheinen in „Die Kirche“ im April 2012
Vom 20. April bis zum 15. Juli wird die Ausstellung im Blick auf die jüngste Vergangenheit, die Einwanderung russischsprachiger Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, unter dem Thema „Russen Juden Deutsche“ ergänzt durch seit 1992 entstandene Fotos von Michael Kerstgen.