Spannungsvolle Begegnungen von alter und neuer Musik: Hans-Christoph Rademann nimmt am Ende der gegenwärtigen Spielzeit nach acht erfolgreichen Jahren als Chefdirigent Abschied vom Berliner RIAS-Kammerchor
Berlin besitzt zwei Rundfunkchöre der internationalen Spitzenqualität. Beide genießen im eigenen Land wie auch in weiten Teilen Europas und darüber hinaus hohes Ansehen. Jeder von ihnen hat jedoch ein unverwechselbar eigenes Profil. Der RIAS-Kammerchor zählt nur etwa die Hälfte der Mitglieder seines um mehrere Jahrzehnte älteren Partners (oder sollte man sagen: Rivalen ?). Auch die Zahl seiner Konzerte ist etwas geringer. Tourneen durch das In- und Ausland nehmen aber mindestens den gleichen Umfang ein. Ins Leben gerufen wurde der Chor 1948 als Ensemble des Rundfunks im Amerikanischen Sektor (RIAS), dessen Kurzbezeichnung er noch heute führt. Er erreichte unter seinen ersten Leitern, Karl Ristenpart, Herbert Froitzheim und Günther Arndt, schon sehr bald weit über Berlin hinaus hohes Ansehen, das sich seit 1972 unter Uwe Gronostay, Marcus Creed und Daniel Reuss permanent weiterentwickelte.
Nicht geringere und sehr vielseitige Akzente setzte seit 2007 Hans-Christoph Rademann, der schon seit seiner frühesten Jugend als Sohn eines Kirchenmusikdirektors im westerzgebirgischen Schwarzenberg, Kruzianer und Präfekt des Dresdner Kreuzchores und mit der eigenen Gründung eines Kammerchores in der Elbemetropole, den er bis heute mit weitem Widerhall leitet, umfassende Chorerfahrungen sammeln konnte. Er wird leider mit dem Ende der derzeitigen Konzertsaison Berlin verlassen und lediglich noch als Gastdirigent zu erleben sein, nachdem er bereits im vergangenen Jahre die ehrenvolle Berufung zum Leiter der Internationalen Bach-Akademie in Stuttgart in der Nachfolge Helmuth Rillings angenommen hat und sich nun genötigt sieht, seine reichen Fähigkeiten im neuen Amt voll einzubringen. Über seine Nachfolge in Berlin war bisher noch nichts zu erfahren.
Hohes internationales Ansehen
Die Berufung nach Stuttgart belegt eindrucksvoll, welches hohe internationale Ansehen sich Rademann während der letzten Jahre nicht nur in Berlin erringen konnte. Auch in seiner ersten Wirkensstätte Dresden wird er nach wie vor hoch geschätzt, wie erst vor wenigen Monaten die Verleihung des Kunstpreises der sächsischen Landeshauptstadt belegt. Die Jury würdigte mit dem Preis, wie sie wissen ließ, einen Musiker, „der zu den international herausragenden Chordirigenten seiner Generation gehört und dessen Engagement im Dresdner Musikleben seit Jahren außergewöhnlich ist“. Es bleibt nur zu hoffen, dass er seine Kräfte und seine Gesundheit nicht überfordert. Immerhin hat er bereits in seinem ersten Stuttgarter Jahr neben Berlin, neben der Leitung des Dresdner Kammerchores und der momentan allerdings ruhenden Chorleitungs-Professur an der dortigen Musikhochschule ein umfangreiches Programm bewältigt. Auch die neue Spielzeit begann mit dem Stuttgarter Musikfest dieses Jahres und einem von Prof. Rademann geleiteten Meisterkurs Dirigieren sehr bewegt und anspruchsvoll. Mit dem Beginn des Berliner „Endspurts“ schlossen sich weitere ausgedehnte Verpflichtungen an: Tourneekonzerte mit Bruckner, Brahms und Mendelssohn in der Basilika des Klosters Eberbach und Haydns „Jahreszeiten“ in der St. Georgen-Kirche Schwarzenberg und in Riga.
In Berlin beeindruckte tief das erste der sechs Abonnementkonzerte im Kammermusiksaal der Philharmonie. Live von DeutschlandRadio Kultur übertragen, galt es dem bereits 2008 verstorbenen Uwe Gronostay zum Gedenken an die 75. Wiederkehr seines Geburtstages. Im ersten Teil erklangen drei Hölderlin-Vertonungen von Ernst Krenek, György Ligeti und – als Uraufführung eines sehr eindrucksvollen Auftragswerkes – dem 1965 in Dresden geborenen Torsten Rasch, der volle eineinhalb Jahrzehnte nachhaltige Eindrücke in Japan gesammelt hatte. Der zweite Teil brachte zum Gedenken an das Ende des Dreißigjährigen Krieges und als Antikriegs-Mahnmal Karl Amadeus Hartmanns selten zu hörende Kantate „Friede Anno 48“ nach einem Text von Andreas Gryphius.
Bis zum Ende der Spielzeit im Juli 2015 wird Prof. Rademann eine ganze Reihe weiterer Konzerte in Berlin und auf Tourneen bis nach Brüssel dirigieren, wo er am 15. März des kommenden Jahres im Zusammenwirken mit dem Ensemble de musique de chambre de la Monnaie Frank Martins „Zaubertrank“ leiten wird. Im dritten Abonnementkonzert am Neujahrstag erklingen unter seiner Leitung im Großen Saal der Berliner Philharmonie Georg Friedrich Händels Psalm „Dixit Dominus“, das Te Deum von Jan Dismas Zelenka und Johann Sebastian Bachs Kantate „Singet dem Herrn ein neues Lied“. Die Reihe der Forum-Konzerte eröffnet Rademann am 22. November im Krematorium Baumschulenweg mit dem Requiem des spanischen Renaissance-Meisters Tomas Luis de Victoria. Am 15. Februar bringt er mit dem RIAS-Kammerchor im Radialsystem V im Abschlusskonzert des Festivals Chor@Berlin die Zwölf Bußverse von Alfred Schnittke zur Aufführung. Im sechsten und letzten Abonnementkonzert wird unter seiner Leitung am 5. Juli im Großen Saal des Konzerthauses als festlicher Abschluss seiner Berliner Jahre unter Mitwirkung der Akademie für Alte Musik Felix Mendelssohn Bartholdys „Elias“ zu erleben sein. Eine erste Aufführung des Werkes geht zwei Tage zuvor im Kloster Eberbach voraus.
Mehrere Gastdirigenten prägen die Chorkonzerte
Neben Rademann steht in der gegenwärtigen Saison eine ganze Reihe von Gastdirigenten am Pult des Chores. René Jacobs, mit dem RIAS-Kammerchor seit langem eng verbunden, leitet im Dezember unter Mitwirkung des Baroque Orchestre B`Rock Tourneekonzerte mit Bachs Weihnachtsoratorium in Amsterdam, Mailand, Perugia, Neapel, Brüssel und Antwerpen. Die Choreinstudierung übernimmt Rademann. Am 3. April ist Jacobs im 4. Abonnementkonzert gemeinsam mit der Akademie für Alte Musik und einem internationalen Solistenteam mit Bachs Johannes-Passion zu erleben. Am folgenden Tag erklingt des Werk in der gleichen Besetzung in Paris.
Viermal begegnet der Regensburger Florian Helgath unter den Gastdirigenten, nachdem er im Neujahrskonzert des vergangenen Jahres Rademann am Pult erfolgreich vertreten hatte. Wie in der Saisonbroschüre zu lesen, zählt er „zu den rührigsten und kreativsten Vokalschaffenden der Gegenwart“. Er leitet derzeit u.a. das ChorWerk Ruhr, den Dänischen Rundfunkchor und den Via Nova Chor München. Weitere namhafte Gäste sind Leonardo Garcia Alarcon, Andrea Marcon (u.a. mit Bachs h-Moll-Messe am 7. und 9. Dezember im Berliner Konzerthaus), Alexander Liebreich (mit dem Requiem von Maurice Duruflé, einer Auftragskomposition von Pascal Dusapin am 6. Juni 2015 und weiteren Werken), Jörg Genslein mit Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Paul Hindemith und Ernst Krenek im letzten der vier Forum-Konzerte am 19. und 20. Juni 2015, und der Chefdirigent des Berliner Konzerthausorchesters, Iván Fischer, mit einer Mozart-Matinee am 10. Mai. Nicht vergessen werden darf ein ganz besonderes Ereignis: Am 24. Juni des kommenden Jahres leitet Thomas Quasthoff den RIAS-Kammerchor beim Verbier-Festival in der Schweiz mit Bachs Matthäus-Passion.
Die Reihe der mit dem Chor aufgenommenen Tonträger ist durch eine herausragende Aufnahme bereichert worden: eine DVD, die in Zusammenarbeit mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg und ARTE am 15. Juni im Berliner Konzerthaus entstand. Hans-Christoph Rademann brachte an diesem Tage tief bewegend Werke eines Benefizkonzerts zur Wiederaufführung, das Carl Philipp Emanuel Bach am Palmsonntag des Jahres 1786 in Hamburg dargeboten hatte: das Credo der h-Moll-Messe des Vaters mit einer eigenen instrumentalen Einleitung, die Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ aus Händels „Messias“ und von ihm selbst eine seiner Sinfonien, das Magnificat in D und eine Vertonung des „Heilig“. Der RIAS-Kammerchor ist in dieser bedeutungsvollen Aufnahme im Zusammenwirken mit der Akademie für Alte Musik und den Solisten Christina Landshamer, Wiebke Lehmkuhl, Lothar Odinius und Thomas E. Bauer zu erleben.-
Wolfgang Hanke