Ein Vierteljahrtausend Zeitgeschichte

250 Jahre Familie Mendelssohn in Berlin

Wieso feiern wir in diesem Jahr den 250. Gedenktag einer Familie, wo doch deren Stammvater, Moses Mendelssohn, bereits 1743, drei Jahre nach dem Machtantritt Friedrichs II., nach Berlin kam? Der tolerante Aufklärer, Philosoph, Bibelübersetzer, „Weltweise“, vom Freunde Lessing im „Nathan“ verewigt, war bereits als Vierzehnjähriger, rechtloser Jude, seinem Lehrer, dem Oberrabbiner Fränkel, aus Dessau nach Berlin gefolgt, um „allhier …..Geschmack an den Wissenschaften“ zu finden. Und weiter heißt es in einem Brief von 1774 „Übrigens bin ich nie auf einer Universität gewesen, habe auch in meinem Leben kein Collegium lesen hören…. indem ich alles durch Anstrengung und eigenen Fleiß erzwingen musste“.

Als Zweiunddreißigjähriger reist er zu seinem inzwischen in Hamburg verheirateten Freund Aaron Salomon Gumpertz und lernt hier die acht Jahre jüngere Altonaer Kaufmannstochter Fromet Gugenheim kennen. An Lessing schreibt er Mitte Mai 1761: „Das Frauenzimmer, das ich zu heyrathen Willens bin, hat kein Vermögen, ist weder schön noch gelehrt, doch gleichwohl bin ich verliebter Geck so sehr von ihr eingenommen, dass ich glaube, glücklich mit ihr leben zu können“. Die Liebesheirat , die wegen des fehlenden Niederlassungsrechts für die Braut erst ein Jahr später, am 22. Juni 1762, vollzogen werden kann und aus der sechs Kinder erwuchsen, ist somit der Anfang einer von Höhen und Tiefen durchwebten Familiengeschichte, deren Nachkommen als Bankiers, Künstler und Gelehrte die deutsch-jüdische Gemeinschaft über fünf Generationen prägten.

In einem der ältesten Gebäude Berlins, der gotischen Heilig-Geist-Kapelle in der Spandauer Straße, dem einstigen Wohnsitz von Moses Mendelssohn unmittelbar benachbart, zeigt eine Ausstellung „Hochzeit! Liebes- und Trennungswege aus 250 Jahren Familie Mendelssohn“ bis zum 22. August täglich von 12 bis 18 Uhr bei freiem Eintritt außergewöhnliche Sammlungsstücke. Dazu gehört der aus Fromet Mendelssohns Brautkleid gefertigte Toravorhang aus dem Jüdischen Museum ebenso wie Porträts aus Familienbesitz, die öffentlich noch nie gezeigt wurden, unter ihnen die älteste Darstellung Moses Mendelssohns, seine Skandaltochter Dorothea, spätere Schlegel, in ihrem Scheidungsjahr sowie deren erster Ehemann Simon Veit und weitere gescheiterte oder glückliche Paare der zweiten und dritten Mendelssohn-Generation. Besondere Aufmerksamkeit verdient das einem Madonnenbild gleiche Ölgemälde von August Theodor Koselowsky, einem Schüler von Fannys Ehemann Wilhelm Hensel. Es zeigt Albertine Mendelssohn Bartholdy, geborene Heine, 1835 als Braut des jüngsten Sohnes von Abraham und jüngeren Bruders von Felix Mendelssohn Bartholdy, des Bankiers und engagierten Gemäldesammlers Paul.

 Wertvolle neue Erkenntnisse und offene Fragen

…Ein dreitägiger internationaler Kongress, veranstaltet von der Mendelssohn-Gesellschaft e. V., der Berliner Staatsbibliothek, dem Centrum Judaicum der Stiftung Neue Synagoge Berlin, dem Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden und der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts in der Bundesrepublik Deutschland, brachte in mehr als 20 Referaten wertvolle neue Erkenntnisse über die umfangreichen Verdienste, die sich nicht wenige Mitglieder der Mendelssohn-Familie um die wirtschaftliche und soziale, wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung in Berlin und weit darüber hinaus erworben haben. Er fand an historischen Orten statt: in der „Mendelssohn-Remise“ im Hinterquartier des einstigen Stammhauses der Mendelssohn-Bank in der Jägerstraße und einem der Veranstaltungssäle des Centrum Judaicum an der Oranienburger Straße.

Neues zu erfahren war u. a. von Thomas Kuczynski über Moses Mendelssohn als Privatgeschäftsmann, über die ausgedehnten Russland-Geschäfte des Hauses Mendelssohn (Maria Gussewa, Moskau), über Religion, bürgerschaftliches Engagement und gesellschaftliche Integration bei den Kindern und Enkeln Moses Mendelssohn (Thomas Lackmann, Berlin) und über Mendelssohn-Schicksale in der Zeit des NS-Regimes (Beate Kosmala, Berlin). Wolfgang Dinglinger erinnerte nachdrücklich an Felix Mendelssohn Bartholdys jüngere Schwester Rebecka, die trotz eminenter eigener musikalischer Fähigkeiten ihren Geschwistern den Ruhm überlassen musste. Markus Zepf, Nürnberg, rückte den älteren Sohn des Komponisten, Karl, in den Blickpunkt, der sich als Historiker und Universitätsprofessor in Freiburg hohes und noch heute gültiges Ansehen errang, aber schon 35jährig von einem unheilbaren Nervenleiden heimgesucht. wurde.

Ein zentrales Thema berührte Thomas Schmidt mit der Frage nach der Religion in Felix Mendelssohns musikalischen Werken. Gleichfalls von großem Interesse waren die Ausführungen von Cornelia Bartsch, Basel, über die sehr unterschiedlichen Perspektiven der musikalischen Ausbildung der Geschwister Fanny und Felix und von Katrin Reyersbach, Zwickau, über die weitreichenden Musikerkontakte des Bankierehepaares Enole und Franz (von) Mendelssohn. Besonderen Dank verdient Christine Siegerts Würdigung Arnold Mendelssohns. Er trug in den 1920er Jahren entscheidend zur Erneuerung der Kirchenmusik bei. In der NS-Zeit totgeschwiegen, geriet er in den letzten Jahren erneut unverdient in Vergessenheit. Nicht alle drängenden Fragen konnten an den drei Tagen beantwortet werden. Weitere Forschungen sind notwendig. Die bisherigen Ergebnisse werden in absehbarer Zeit in einem Protokollband verfügbar sein.

Sulamith und Eusebia

Den herausragenden Schlussakzent der insgesamt fünf Festtage, zu denen rund 250 Nachfahren der Mendelssohn- und Hensel-Familie aus nah und fern angereist waren, setzten die Sing-Akademie zu Berlin, der Staats- und Domchor, die Kammersymphonie Berlin unter Kai-Uwe Jirka und einige Gesangssolisten mit einer Festlichen Matinee in der Synagoge Rykestraße, in der mitreißend Musik aus dem Umfeld Moses Mendelssohns und seiner nächsten Nachfahren zu erleben war: Vertonungen einiger der von ihm ins Deutsche übertragenen Psalmtexte von Andreas Romberg und Carl Fasch, dem Begründer der Sing-Akademie, Auszüge aus einem für diesen Chor komponierten Frühwerk von Giacomo Meyerbeer, der Lyrischen Rhapsodie „Gott und die Natur“, ein imponierender Chorsatz von Joseph Haydn, arrangiert von Clytus Gottwald, und der 42. Psalm aus Felix Mendelssohns erstem Ehejahr 1837.

Eine Uraufführung gab der Matinee ihre besondere Note. Die seit 2004 als Professorin für Komposition an der Hochschule der Künste in Zürich tätige Komponistin Isabel Mundry war eingeladen worden, ein neues Werk auf den Spuren der Trauerkantate des Berliner Kapellmeisters jüdischen Glaubens Carl Bernhard Wessely auf den Tod Moses Mendelssohns zu schreiben, von der nur der Text Carl Wilhelm Ramlers erhalten blieb: „Sulamith und Eusebia“. Die beiden Titelgestalten dieses Werkes sollen ein enges Miteinander von Juden- und Christentum versinnbildlichen. Die neue Komposition bot sich bisher noch als Torso. Nur drei Sätze waren von ihr zu hören. Man darf gespannt sein auf ihre Vollendung.

Maria Brigitte und Wolfgang Hanke

Eine Kurzfassung des vorliegenden Beitrags erscheint am 1. Juli 2012 in dem evangelischen Wochenblatt „DIE KIRCHE“

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