Berliner Staatsoper: Nietzsche als faszinierende Titelgestalt

Festival für Neues Musiktheater im Berliner Schillertheater
mit Wolfgang Rihms Opernphantasie „Dionysos“

Die Berliner Staatsoper beschloss die zweite Spielzeit in ihrem Ausweichquartier Schillertheater mit einem elftägigen Festival für Neues Musiktheater unter dem vielsagenden Leitwort INFEKTION. Zentraler Blickpunkt war der 100. Geburtstag des amerikanischen Postavantgardisten John Cage, von dem eine Vielzahl von Kompositionen und Aktionen zu erleben war. Pierre Boulez setzte weitere Akzente in einem von Daniel Barenboim geleiteten Kammerkonzert mit Mitgliedern des von ihm ins Leben gerufenen West-Eastern Divan Orchestra. Überraschende Anziehungskraft übten die vier Aufführungen von Wolfgang Rihms Opernphantasie „Dionysos“ aus, die vor zwei Jahren bei den Salzburger Festspielen ihre Uraufführung erlebte und nun in der gleichen Inszenierung auch in Berlin zu sehen und zu hören war.

Bereits das Informationsbedürfnis der Besucher war erstaunlich. Noch am vierten Abend reichten die Sitzgelegenheiten in einem Nebengelass nicht entfernt aus, der großen Zahl der Interessenten für den Einführungsvortrag eine Dreiviertelstunde vor Beginn der Vorstellung Platz zu bieten. Auch der Beifall nach den einzelnen Szenen und vollends am Schluss ließ nichts zu wünschen übrig, so sehr man über so manches textliche und szenische Detail streiten könnte.

Wolfgang Rihm, der am 13. März 2012 sein sechstes Lebensjahrzehnt vollendete, zählt zu den produktivsten und gefeiertsten deutschen Komponisten der Gegenwart. Der in Karlsruhe Geborene, der noch heute an der Musikhochschule seiner Heimatstadt eine Professur wahrnimmt und nach wie vor mit Berlin eng verbunden ist, aber auch zahlreiche Ehrenämter weit über die deutschen Grenzen hinaus inne hat, setzte sich schon früh mit der problembeladenen Geisteswelt Friedrich Nietzsches auseinander und schrieb eine ganze Reihe von Werken nach dessen Ideen und Texten. In der „Dionysos“-Phantasie näherte er sich bedrängend dessen von Größenwahn und zunehmender Schizophrenie umdüsterten letzten Lebensphase. Ähnliche Konstellationen hatten ihn schon in früheren Werken im Blick auf Hölderlin, den „Stürmer und Dränger“ Jakob Michael Reinhold Lenz und weitere von schweren Geisteserkrankungen heimgesuchte Persönlichkeiten interessiert und offensichtlich nachdrücklich gefesselt. Dem späten Nietzsche am Rand des Wahnsinnsausbruchs nähert er sich mit Textbruchstücken aus dessen in den 1880er Jahren niedergeschriebenen Dionysos-Dithyramben. Er findet dafür zum Teil faszinierende, bisweilen geradezu hinter-, ja abgründige musikalische Versionen – oder sollte man vielleicht sogar von  V i sionen sprechen ? – , mit unüberhörbaren Anklängen an Wagner und Richard Strauss, die Ingo Metzmacher am Dirigentenpult mitreißend zur Wirkung bringt.

Die einprägsame Inszenierung von Pierre Audi und Jonathan Maases geistvoll ironische, mit Video-Installationen überhöhte Bühnenbilder setzen Gegenakzente, die der Aufführung zusätzlichen Reiz verleihen. Entscheidenden Anteil an dem letztlich wohl auch in Berlin wie schon in Salzburg unumstrittenen Erfolg dieser erneuten Begegnung mit einem der tonangebenden Werke Wolfgang Rihms kommt neben der Berliner Staatskapelle und dem Staatsopernchor dem Ensemble zu, aus dem vor allem Mojca Erdmann als Ariadne und Gegenbild zu der vom „Titelhelden“ verzweiflungsvoll verehrten Cosima Wagner, Georg Nigl als „N.“ – Nietzsche in höchsteigener Person – und Matthias Klink als „Ein Gast“ und in der Verwandlung zu Apollon Imponierendes geleistet haben.

Wolfgang Hanke

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