Verdienstvolle Wiederentdeckung
Dreimal hat sich Peter Tschaikowski von Dichtungen Alexander Puschkins zu Meisterwerken der Musikdramatik inspirieren lassen. Nur zwei von ihnen, „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“, fanden jedoch die ihrem hohen künstlerischen Rang gebührende Wertschätzung und werden nach wie vor weit über Europa hinaus an nahezu allen renommierten Opernbühnen aufgeführt. Das erstgenannte Werk fand nach seiner Uraufführung durch ein Studentenensemble am Moskauer Maly-Theater im März 1879 erwartungsgemäß noch nicht die verdiente Würdigung. Das gelang in den folgenden Jahren erst weiteren Inszenierungen am Moskauer Bolschoi-Theater und am Mariinski Teatr in St. Petersburg. „Pique Dame“ brachte dem Komponisten bereits Ende Dezember 1890 nach der Uraufführung am Kaiserlichen Theater der Newa-Metropole einen triumphalen Erfolg, der auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten anhielt und bis heute bei entsprechender Qualität der Darbietung nicht verblasst.
Unbezweifelbar genialer Wurf
Die musikalische Tragödie „Mazeppa“, die ein reales historisches Geschehen aus der Zeit des Nordischen Krieges zwischen Schweden, Russland, Polen und Sachsen am Beginn des 18. Jahrhunderts nachgestaltet, hatte Tschaikowski mehr als zwei Jahre beschäftigt. Sie fand bei ihren ersten Aufführungen im Februar 1884 aber weder in Moskau noch in St. Petersburg nennenswerten Widerhall und konnte sich auch bei den wiederholten Versuchen, ihr jenseits der russischen Grenzen Erfolg zu verschaffen, lange Zeit nicht durchsetzen. An der damaligen Dreilinden-Oper in Leipzig weckte sie 1951 trotz der vergleichsweise nur bescheidenen Aufführungsmöglichkeiten Interesse und wurde als unbezweifelbar genialer Wurf gewertet. Berlin blieb mit seinen drei Opernhäusern aber noch mehr als sechs Jahrzehnte außen vor.
Erst jetzt hat es die Komische Oper gewagt, das weit über ein Jahrhundert völlig zu Unrecht ins Abseits geratene Werk erstmals vor einer breiteren und kritischen Öffentlichkeit ihrer Stadt zur Diskussion zustellen. Der flämische Regisseur Ivo van Hove beschreitet allerdings in enger Gemeinschaft mit dem Bühnenbildner und Lichtgestalter Jan Versweyveld gänzlich andere Wege, als man sie von der Wiedergabe der geschichtlichen Realitäten vor rund drei Jahrhunderten erwarten möchte. Er kontrastiert das originale Bühnengeschehen um die Schlacht von Poltawa im Jahre 1709 , das er fast in die Zeitlosigkeit versetzt, mit tief erschütternden Videoprojektionen aus den vernichtenden Kriegen und Revolten der Gegenwart. Viele Besucher der Aufführung mag das befremden und womöglich gar aus dem Theater treiben. In jedem Falle gewinnt Tschaikowskis Musik gänzlich neue Dimensionen, eine unerhörte Dramatik, die es dem packend engagierten Dirigenten Henrik Nánási aber nicht verwehrt, die tief bewegenden lyrischen Töne des Finalsatzes nachzuvollziehen. Er fordert viel von seinem Orchester, findet bei den Musikern aber alle notwendige Bereitschaft zum Mitvollzug.
Zu den Positiva der Aufführung gehört unbedingt, dass sie im Gegensatz zur bisherigen Praxis der Komischen Oper auf den originalen russischen Text zurückgreift. Er verleiht den Gesängen ein sehr viel authentischeres Fluidum, als es der Übersetzung ins Deutsche möglich ist, die das großenteils ausländische Sängerensemble nicht selten vor zusätzliche Probleme stellt. In jedem Falle bewährt sich das Solistenteam dieser Inszenierung bewundernswert. Sowohl der englische Bariton Robert Hayward in der Titelpartie des Kosakenhetmans Mazeppa als auch Alexey Antonow als Gutsbesitzer Kotschubej, Agnes Zwierko als dessen Frau Ljubow, Asmik Grigorian als seine Tochter Marie und Ales Briscein als deren Jugendfreund Andrej präsentieren sich darstellerisch nicht weniger eindrucksvoll als in ihren in hohem Grade anspruchsvollen Gesangspartien.
Wolfgang Hanke