Cottbus erlebte eine begeisternde Opernspielzeit
Cottbus hat als das tonangebende Zentrum des Musiktheaters im Land Brandenburg während der letzten Jahre erneut einen weit über dessen Grenzen hinaus beachteten Aufschwung gewonnen. Zwar drohen zunehmend Sparzwänge. Es wäre aber ein fataler Missgriff, die seit mehr als einem Jahrhundert bewährte Drei-Sparten-Präsenz, wie zeitweilig angedacht, abzubauen, denn ohne sie wären Höhepunkte, wie sie die vergangene Spielzeit in bewundernswerter Zahl gebracht hat, schwerlich denkbar. Besonders bemerkenswert erscheint, dass es sich im Bereich des Musiktheaters zum größten Teil um Aufführungen aus dem internationalen Repertoire handelte.
Dass zwei der herausragenden Ereignisse aus den USA stammten, hatte gute Gründe, da nunmehr ein hochbefähigter junger amerikanischer Dirigent, Evan Christ, als Generalmusikdirektor amtiert und bereits für einen spürbaren Qualitätsanstieg des Musiktheaters gesorgt hat. Er wird auch den Anfang Oktober zu erwartenden Jubiläumsfeierlichkeiten zum 100. Gründungstag des heutigen Philharmonischen Orchesters Cottbus seine ganz besondere Note verleihen.
Die beiden amerikanischen Werke hat er allerdings nicht selbst geleitet. Sie erhielten ihre sehr unterschiedliche Faszinationskraft durch den 1. Kapellmeister, Marc Niemann. Er gab dem Musical „Anatevka“ nach Scholem Alejchems Roman „Der Fiedler auf dem Dach“, einem der größten Erfolge der vergangenen Spielzeit, nicht nur den nötigen musikalischen und tänzerischen Impuls. Er verstand es auch in engem Zusammenwirken mit dem italienischen Gastregisseur und Choreographen Giorgio Madia und dem glänzend besetzten Sänger- und Darstellerensemble mit Jürgen Trekel als Tevje in die Tiefe zu dringen und die bedrängenden geschichtlichen Hintergründe in die Erinnerung zu rufen.
Noch tiefer in die Abgründe zwischen Wahn und Wirklichkeit drang er gemeinsam mit dem Regisseur Jo Fabian in der 1988 uraufgeführten Kammeroper „Der Fall des Hauses Usher“ von Philip Glass, einem der nach wie vor meistgespielten US-amerikanischen Komponisten, nach der fast 130 Jahre zuvor entstandenen gleichnamigen Erzählung von Edgar Allan Poe vor. Auch hier war – auf der Kammerbühne – ein beeindruckendes Team von Sänger-Darstellern mit Matthias Bleidorn, Heiko Walter und Debra Stanley in den tragenden Partien zu erleben. Beide Inszenierungen bleiben auf dem Spielplan. Mit „Anatevka“ gastiert das Cottbuser Ensemble in den kommenden Monaten überdies mehrmals im Hans-Otto-Theater Potsdam und im Kleist-Forum Frankfurt (Oder).
Mutiges Projekt mit nachhaltigem Widerhall
Leider nicht mehr in der neuen Spielzeit zu erleben ist ein mutiges Projekt, das in zwei Spielzeiten nachhaltigen Widerhall fand: Robert Schumanns lange Zeit heiß umstrittene, aber dennoch als Musikschöpfung geniale einzige Oper „Genoveva“ , deren Libretto der Komponist selbst mit nicht immer glücklicher Hand nach Friedrich Hebbels gleichnamiger Tragödie und Ludwig Tiecks Drama „Leben und Tod der heiligen Genoveva“ zusammengetragen hatte. Der Intendant des Cottbuser Staatstheaters, Martin Schüler, als Regisseur, Evan Christ am Dirigentenpult und das Ensemble mit der als Sängerin wie Darstellerin gleich bewundernswerten Gesine Forberger ließen hinreißend den genialen Impetus von Schumanns Musik zum Erlebnis werden und die dramaturgischen Schwächen des Textes vergessen. Das „besondere Opernereignis“ dieser Cottbuser Aufführung wäre es wert, im Gespräch zu bleiben und durch Gastspiele an anderen Bühnen künftig noch breitere Resonanz zu finden.
Ein weiteres Musiktheater-Highlight bleibt auf dem Spielplan: „Lucia di Lammermoor“ nach Walter Scott, eine der genialsten Kreationen Gaetano Donizettis, 1835 in Neapel uraufgeführt und bald auch auf vielen deutschen Opernbühnen umjubelt. Evan Christ am Pult, dem Regisseur Hauke Tesch und dem summa cum laude besetzten Ensemble mit Cornelia Zink in der Titelpartie gelang es überwältigend, die in Wahnsinn und Tod endende Liebestragödie bis in ihre letzten Abgründe auszuschöpfen. Sie bewiesen aber auch ein sicheres Gespür für die musikalischen Glanzpunkte eines der Gipfelwerke der Belcanto-Oper. Ihren ganz speziellen Reiz erhielt die Aufführung durch den berührenden Zartklang einer originalen Glasharmonika, die – 1762 von dem berühmten Physiker Benjamin Franklin in London entwickelt – heute fast nur noch als kostbare Rarität in Museen zu bewundern ist. Das von Donizetti ausdrücklich gewünschte und schon von Mozarts geschätzte Instrument wird seit langem fast nur noch durch andere Klangträger ersetzt.
Zum tragischen Musikdrama gesteigert
Die Spielzeit schloss mit einer nochmals vielbeachteten und ungewöhnlichen Musiktheater-Premiere: Antonin Dvoráks „Rusalka“. Die Aufführung folgt dem heute immer häufiger zu beobachtenden Trend, die vertrauten Pfade zu verlassen und neue Bahnen zu suchen. Über Inszenierung und Bühnenbild von Ralf Nürnberger lässt sich streiten. Er findet nicht immer überzeugende Varianten und platziert das Werk in einem seinen ursprünglichen Schauplätzen völlig fremden Milieu. Musikalisch setzt die Aufführung mit Evan Christ am Pult und Judith Kuhn in der Titelpartie aber tief bewegende Akzente, da sie das Werk weit über das ursprüngliche Konzept eines „Lyrischen Märchens“ hinaus zum tragischen Musikdrama steigert. Die eigenwillige Werkpräsentation verspricht auch in der neuen Spielzeit weiten Widerhall und reichen Diskussionsstoff.
Die kommenden Monate lassen – nicht zuletzt durch das bevorstehende Richard-Wagner-Gedenkjahr – weitere Höhepunkte erwarten. Eine anregende Vorschau mit szenischen Miniaturen und einem Großen Konzert bietet der letzte Augustsonntag ab 15 Uhr bei freiem Eintritt mit dem zehnten Jahrgang des Events „Theater und Musik in Pücklers Park Branitz“, das schon in den vergangenen Jahren Tausende von Besuchern aus nah und fern begeisterte.
Wolfgang Hanke