Rundfunkchor Berlin: Neue Erlebniswelten der Chormusik

Der älteste Rundfunkchor Deutschlands bereitet für die kommende Saison umfangreiche Projekte vor

In der kommenden Spielzeit werden es 90 Jahre, dass der heutige Rundfunkchor Berlin unter Hugo Rüdel als Berliner Funk-Chor ins Leben gerufen wurde. Er ist damit der älteste Rundfunkchor Deutschlands und hat sich im Lauf der Jahrzehnte zu einem der führenden Konzertchöre der Welt entwickelt. Bedingt durch die politischen Geschehnisse und Wandlungen, blickt er auf eine sehr bewegte und wechselvolle Geschichte zurück. Bereits nach acht Jahren, im Juni 1933, wurde er unter dem NS-Regime in Chor des Reichssenders Berlin umbenannt. Durch die Kriegsereignisse musste er im September 1943 aufgelöst werden, konnte aber bereits wenige Monate nach Kriegsende unter Helmut Koch seine Arbeit als Berliner Solistenvereinigung wiederaufnehmen. Im Juli 1948 gründete sein in der DDR hoch geschätzter Leiter den Großen Chor des Berliner Rundfunks, mit dem er vor allem durch Aufführungen von Oratorien Georg Friedrich Händels europaweit hohes Ansehen errang. 1973 kam es zur Fusion der Berliner Solistenvereinigung und des Großen Chors zum Rundfunkchor Berlin, den von 1982 bis zu seinem viel zu frühen Tod 1993 Dietrich Knothe leitete. Seine Nachfolge als Chefdirigent übernahm der Brite Robin Gritton. Ihm folgte 2001 sein Landsmann Simon Halsey, der die Chorarbeit seitdem in wesentlichen Teilen neu geprägt hat.

Außergewöhnliche Neuinterpretationen klassischer Meisterwerke

Bereits zwei Jahre, nachdem er die Leitung des Chores übernommen hatte, rief er eine Initiative ins Leben, die er „Broadening the Scope of Choral Music“, „den Wirkungskreis der Chormusik erweitern“, nannte. Seitdem setzen Simon Halsey und – tiefdringend von ihm inspiriert – die 64 Mitglieder des Chores die Suche nach neuen Erlebniswelten der Chormusik kontinuierlich fort und konnten damit bereits eine beachtliche Zahl neuer Hörer, auch aus der jungen Generation, interessieren und gewinnen. 2005 entwickelte sich ein festes Programm, „Broadening in Concert“, mit alljährlichen Neuentdeckungen und zum Teil höchst außergewöhnlichen Neuinterpretationen klassischer Meisterwerke, aber auch Uraufführungen von eigens für die jeweiligen Anlässe in Auftrag gegebenen Kompositionen.

Die zehnte Saison dieser Initiative wird an das bisher Erreichte erinnern, aber auch bemerkenswerte neue Akzente setzen. Sogleich zu ihrem Beginn gastiert der Chor am 3. und  6. September dieses Jahres gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle beim Lucerne Festival und bei den BBC-Proms in der Londoner Royal Albert Hall mit einer Wiederaufnahme der erstmals 2010 in der packenden szenischen Gestaltung von Peter Sellars präsentierten Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Weitere  Aufführungen des Werkes folgen am 7. und 8. Oktober beim White Night Festival des Lincoln Center for the Performing Arts in New York in der eigens für diesen Anlass umgestalteten Drill Hall der Park Avenue Armory, der Riesenhalle einer 150 Jahre alten Kaserne. Beim gleichen Festival leitet Halsey in der Church of St. Mary the Virgin Sergei Rachmaninows Vesperliturgie. Bachs Johannes-Passion war im April dieses Jahres erstmals in einer gleichfalls sehr einprägsamen Neugestaltung von Peter Sellars zu erleben, die er als „Gebet“ und „Meditation“ verstanden wissen wollte, von Halsey einstudiert, unter Simon Rattle in der Berliner Philharmonie und anschließend bei den 2. Osterfestspielen der Philharmoniker in Baden Baden.

Rachmaninows Vesperliturgie leitet Simon Halsey bereits am 22. September dieses Jahres in der Rotterdamer Laurenskerk. Am 24. und 25. September bereichert er das Festival De Keuze in der Rotterdamse Schouwburg  mit dem „human requiem“, einer von Jochen Sandig unter Mitwirkung von Sasha Waltz & Guests realisierten „Verkörperlichung“ von Johannes Brahms’ Deutschem Requiem in der Version mit vierhändiger Klavierbegleitung, die er vom 26. bis 28. März des kommenden Jahres auch im Berliner Radialsystem dirigieren wird. Für den 11. und 12. Juni sind zwei weitere Aufführungen bei der 7. Biennale d’art vocal  in der Pariser Philharmonie angekündigt. Vom 22. bis 24. Januar des nächsten Jahres wirkt der Rundfunkchor in einer rein konzertanten Aufführung des Werkes unter Christian Thielemann in der Berliner Philharmonie mit.

Von Beethoven und Berlioz bis Mahler, Strauss und Strawinsky

Seine Berliner Konzertsaison 2014/15 eröffnet der Rundfunkchor vom 6. bis zum 9. November dieses Jahres in Erinnerung an den Mauerfall vor 25 Jahren mit vier Konzerten in der Philharmonie unter Simon Rattle, in denen neben Beethovens IX. Sinfonie u.a. Werke von Karol Szymanowski, Bohuslav Martinu, György Kurtág und Helmut Lachenmann zu erleben sein werden. Mit den Berliner Philharmonikern wirkt der Rundfunkchor noch in einigen weiteren Konzerten zusammen, u.a. am 31. Januar mit Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie unter Rattle, am 10., 11. und 12. März unter dem Chefdirigenten der Deutschen Oper Berlin, Donald Runnicles, mit Kompositionen von Olivier Messiaen, Claude Debussy und dem Requiem von Maurice Duruflé und am 10. und 11. April unter Rattle mit der Légende dramatique „La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz.

Fünf Konzerte verbinden den Chor mit dem Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester unter Marek Janowski. Hervorgehoben seien vor allem die konzertanten Aufführungen von Richard Strauss’ „Daphne“ und „Elektra“ am 5. und 7. Mai. Das Deutsche Symphonie-Orchester hat den Chor zur Mitwirkung in drei Konzerten unter Ingo Metzmacher, seinem Chefdirigenten Tugan Sokhiev (mit Berlioz’ Symphonie dramatique „Roméo et Juliette“) und Kent Nagano (u.a. mit Igor Strawinskys Psalmensinfonie) eingeladen.

Ein besonderes Ereignis ist mit den Weihnachtskonzerten im Berliner Dom am 22. und 23. Dezember zu erwarten. Sie werden geleitet von dem Chefdirigenten des Staatlichen Akademischen Chores Latvija in Riga, Maris Sirmais. Es bringt neben Ottorino Respighis „Lauda per la Natività del Signore“ unter Mitwirkung des Polyphonia Ensembles Berlin vor allem Werke lettischer Komponisten. Besonderes bieten auch die sechs Kammermusik-Podien im Festsaal des Schlosses im Tierpark Friedrichsfelde, in dem Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchores ihre individuellen künstlerischen Qualitäten mit Musik vom Barock bis zur Gegenwart und eigenen Kompositionen präsentieren.

Das Projekt „Broadening in Concert“  begeht seinen zehnten Jahrestag am 30. Mai des kommenden Jahres im Funkhaus Berlin an der Nalepastraße mit einem Abend unter dem Leitwort „Liberté“, „Freiheit“, der an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 70 und den Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren erinnern soll. Auf dem Programm stehen Werke von Francis Poulenc, Christian Jost, David Lang und Ernst Pepping. Voraus geht am gleichen Ort ein Konzert der Schola des Rundfunkchores unter Nicolas Fink, von einem Instrumentalensemble der Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler begleitet, mit dem „Totentanz“ von Hugo Distler und den „Canti di prigionia“ von Luigi Dallapiccola.

Nachwuchsförderung als eine der zentralen Aufgaben

Eine ihrer zentralen Aufgaben sehen Simon Halsey und die Mitglieder des Rundfunkchores in der Nachwuchsförderung. Bereits vor drei Jahren hat der Chor mit seiner Education-Initiative „SING !“ ein breit angelegtes musikpädagogisches Programm zur Förderung des Singens im Schulalltag ins Leben gerufen und erreicht damit regelmäßig über 2000 Schüler und 95 Lehrer. Zu zehn Berliner Grundschulen, sieben Bezirksmusikschulen und der Landesmusikakademie Berlin bestehen enge Kontakte. Im März 2011 richtete der Rundfunkchor eine eigene Akademie ein, die jungen Sängerinnen und Sängern die Möglichkeit bietet, sechs Monate in einem international renommierten Profichor zu arbeiten. In eine neue Phase startet diese Akademie mit der Gründung einer Schola, der jeweils vier junge Sängerinnen und Sänger angehören. Gemeinsam mit Gesangsstudenten der Eisler-Hochschule bilden die vier Akademisten für jeweils ein Semester ein Vokalensemble, das sich in  der kommenden Saison unter der Leitung von Nicolas Fink mit zwei anspruchsvollen Kammermusikprogrammen präsentieren wird.

Für die „Mitsingkonzerte“, die Simon Halsey Jahr für Jahr mit seinem Chor in der Berliner Philharmonie und seit 2012 auch im Ausland veranstaltet, sind die Plätze zumeist schon in kürzester Frist ausgebucht. Für das kommende Jahr ist am 31. Mai in der Philharmonie – wie schon 2008 – eine erneute Aufführung von Giuseppe Verdis Messa da Requiem vorgesehen. Ein Mitsingkonzert International wird für den 8. Mai 2016 im Wiener Konzerthaus mit Franz Schuberts Es-Dur-Messe vorbereitet. Für Berliner Schüler gibt es Mitsingkonzerte in Gestalt der „Liederbörsen“. In diesem Jahr ging es „Rund ums Volkslied“. Für den 20. Juni 2015 sind zwei Nachmittagskonzerte für  Berliner Grundschulen  und ein Abendkonzert für Oberschüler geplant.

Nachhaltiges Interesse hat nicht zuletzt der „LeaderChor Berlin“ gefunden, der sich in der neuen Saison dem Thema „Krieg und Frieden“ widmen wird. Das Abschlusskonzert ist am 29. März im Berliner Neuen Museum mit Werken u.a. von Clément Janequin, Joseph Haydn, Hubert Parry, Max Reger, Howard Goodall, Karl Jenkins und John Tavener zu erleben. Voraus geht ein viertägiger Workshop. Aktive Teilnehmer sind vor allem Manager und Führungskräfte aus Wirtschaft und Gesellschaft.

Nicht vergessen werden darf, dass die wiederum sehr lesenswerte Jahresbroschüre vier neue CD- bzw. DVD-Produktionen empfiehlt, an denen der Berliner Rundfunkchor maßgeblich beteiligt ist. Bei Pentatone erschien Richard Wagners „Götterdämmerung“ mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski mit namhaften Solisten. Die Gesamtausgabe seiner zehn Wagner-Einspielungen ist voraussichtlich noch vor Ende dieses Jahres zu erwarten. Sony Classical bringt Sergei Prokofjews Musikdrama „Iwan der Schreckliche“ mit dem Rundfunkchor, dem Staats- und Domchor Berlin und dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Tugan Sokhiev. Bachs Johannes-Passion in der szenischen Gestaltung von Peter Sellars unter Simon Rattle mit den prominenten Gesangssolisten Mark Padmore, Camilla Tilling, Magdalena Kozena, Topi Lehtipuu, Christian Gerhaher und Roderick Williams wird bei dem eigenen Label der Berliner Philharmoniker erscheinen. Im Herbst dieses Jahres ist bei Carus eine Aufnahme des Requiems von Charles Gounod in der Fassung für Chor und Orgel und die Messe D-Dur von Antonin Dvorák mit dem Rundfunkchor und dem Polyphonia Ensemble unter Risto Joost und Hyelin Hur zu erwarten.

Mit dem Ende der Spielzeit 2015/16 wird Simon Halsey Berlin verlassen. Der Entschluss, nach reichlich eineinhalb Jahrzehnten Abschied zu nehmen, sei ihm sehr schwer gefallen, wie er in einem in der Saisonbroschüre abgedruckten Gespräch zugab. Chefdirigenten, betonte er, sollten nicht zu lange bleiben und rechtzeitig Platz machen für neue Impulse. Er habe auch das Bedürfnis, wieder näher bei seiner Familie zu leben. Über seine Nachfolge war bisher noch nichts zu erfahren. Es wird nicht leicht sein, einen Chorerzieher von ähnlich überragenden und wahrhaft charismatischen Fähigkeiten zu finden. Man darf aber wohl hoffen, ihn in Zukunft wenigstens – und nicht zu selten – als Gast am Pult der Berliner Rundfunkchores zu erleben.

 

Wolfgang Hanke

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