Bilder der Vergangenheit jagen sich, ballen sich, fließen wieder auseinander, verdichten sich zu neuen Erinnerungen, die wiederum von anderen verdrängt werden. Ja, lieber Ruben, du wunderst dich über meinen Erinnerungsrausch. Aber mich bewegt noch immer der Tod eines Menschen, von dem ich wichtige Denkanstöße erhalten habe.
Es ist der wunderbare Schauspieler, Intendant, Freigeist, der Verwalter willkürlich auf den Müll geworfenen Kulturerbes, Peter Sodann. Als „Tatort“-Kommissar Paul Ehrlicher hat er 15 Jahre lang mit seiner Streitbarkeit, seinem tiefsinnigen Humor, seiner liebenswürdigen Schrulligkeit und seinem jungen, erfrischenden Kollegen Kain, dem treuen Freund Michael Lade, die Herzen vieler Zuschauer erobert.
Persönlich kennengelernt habe ich ihn allerdings schon Jahrzehnte zuvor; in Leipzig, in der Grimmaischen Straße, in den unterirdischen Gewölben der renommierten „Buchhandlung Genth“. Im zweiten Untergeschoss des Hauses hatten „Die Spötter“ ihr Domizil. Ein Kabarett, das Peter Sodann, damals noch Student an der Theaterhochschule, leitete.
Geprobt wurde zu dieser Zeit für das Stück „Wo der Hund begraben liegt“. Mir war damals, als noch blutjunger Buchhändlerin, das Antiquariat anvertraut. Der „Giftkeller“, dort wo die angekauften Bücher gelagert und sortiert wurden, „was darf verkauft werden, was ist nicht erlaubt“, lag im 3. Untergeschoss. Mein Weg führte also am Satirekeller vorbei.
Es musste kommen, wie es nicht sollte, ein Stapel Bücher fiel aus dem Behälter, den ich vor mir herschleppte, auf die Erde. Vom Krach aufgeschreckt erschien ein junger Mann, der glaubte, ich wolle mich mit diesem Gag für sein Kabarett bewerben.
Immerhin konnte ich ihm im Laufe unserer intensiven, kurzen Gespräche meine Zweifel antragen, ob es mir denn auch gelingen würde, die richtigen Bücher auszusortieren. Was ist die falsche, was die wahre Literatur? Mich hat seine Geradlinigkeit, die Weitsicht imponiert, sein auf das Ziel gerichtete Denken, ein Mensch, der nicht nachspricht, was andere falsch gedacht haben.
Die Begeisterungsfähigkeit, nicht nur für die Literatur, und der unverkennbare Gerechtigkeitssinn spornten mich an, Dinge zu hinterfragen und den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Ja, Peter Sodann festigte meine noch zaghafte Erkenntnis, dass uns Bücher immer etwas zu sagen haben und damit ihre eigene Geschichte hätten.
Seine kurz darauf vollzogene Verhaftung wegen konterrevolutionären Gedankengutes ließ das Blut in meinen Adern stocken. Da war ich wieder ganz bei ihm mit der Aussage: „Die Welt ist ungerecht.“
Er, aus einer Arbeiterfamilie stammend, der Vater im Krieg gefallen, hatte eine Ausbildung als Werkzeugmacher absolviert und auf der Arbeiter- und Bauernfakultät das Abitur abgelegt. Später tauschte er das Jurastudium mit dem des Schauspiels. „Kultur“ wurde in der DDR großgeschrieben. Er hatte damit also alle Voraussetzungen, die der Staat an seine Bürger stellte, erfüllt.
Was stimmte da nicht? Und ich spürte wieder den Schmerz, denn die „Zuträger und Anschwärzer“ hatten auch meine Familie im Griff. Wie dankbar war ich, als ich ihn nach 9-monatiger Haft und dem Abschluss des Studiums, wenn auch nicht lange, am Berliner Ensemble erleben durfte. Ich hatte den Wechsel Leipzig-Berlin bereits vollzogen. Und obwohl damit im Zentrum der Macht, war die kulturpolitische Lage eine weitaus günstigere als im engstirnig regierten Leipzig.
Große Hochachtung zollte ich Peter Sodann, als ich von seinen spektakulären Aktivitäten hörte. Dort, wo Kulturräume abgeschafft wurden, hat er neue geschaffen. Als nach der deutschen Wiedervereinigung Tausende von Büchern auf dem Müll landeten, hat er die einmalige Initiative ergriffen, sie zu retten und zu bewahren. Die daraus entstandene Peter-Sodann- Bibliothek umfasst inzwischen drei Millionen Bücher, die in den Jahren zwischen 1945 bis 1990 verlegt wurden.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Erde in irgendeiner Weise zu retten: durch Bildung und Kultur.“ Dieser Gedanke des weitsichtigen, streitbaren Demokraten hat sich mir tief eingeprägt. Er hätte uns noch viel zu sagen gehabt, uns immer wieder ermuntert. Ich halte mich an seinen Ausspruch: „Lachen kann emanzipatorisch sein, befreiend wirken, es kann zum Nachdenken anregen“ und ist auf alle Fälle gesund.
Am 5. April starb Peter Sodann im Alter von 87 Jahren in seiner Wahlheimat Halle an der Saale.