Heinrich Schütz` ergreifende Vertonung des 119. Psalms, die er zusammen mit dem 100. Psalm und dem Deutschen Magnificat als „seinen Schwanengesang“ bezeichnete,1671, ein Jahr vor dem Tod, für die zwei Emporen der Dresdner Schlosskirche beendet, fand im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie mit dem Rias Kammerchor und der von Katharina Bäuml geleiteten Capella de la Torre unter Justin Doyle eine musikalisch archaische wie brillant farbenprächtige Umsetzung und ein dankbares Publikum.
Es war ein Abend, der lange im Gedächtnis bleibt. Mit diesem bewegenden, von tiefem Humanismus und großer Religiosität getragenen Opus ultimum eröffnete der Chor, der von einer britischen Zeitschrift zu den zehn besten der Welt gekürt wurde, und sein Chefdirigent und künstlerischer Leiter, Justin Doyle, die Konzertsaison 2019/20. Mit diesem erhabenen Programm bestritt der Rias Kammerchor als „artist in residence“ auch am 4. Oktober das Eröffnungskonzert des jährlich stattfindenden Heinrich Schütz Musikfestes in Gera. Hier hatte Justin Doyle als Besonderheit seinen diesjährigen Patenchor, den Konzertchor des Geraer Goethe-Gymnasiums/Rutheneum, einbezogen..
Eine Aufführung des 13-teiligen Schwanengesangs war zu Lebzeiten des Henrici Sagittarius, so der latinisierte Name seit dem ersten Venedigaufenthalt und der Begegnung mit dem verehrten Lehrer Giovanni Gabrieli in San Marco, wohl nicht zustande gekommen. Es fehlt auch der Nachweis, dass die 176 Verse des 119. Psalms, die Schütz in elf konzertierenden doppelchörigen Motetten mit basso sequente und den Gloria-patri-Schlüssen („wie es war im Anfang“) als symbolische Vertonung der Bibel zusammenfasste, später zur Kenntnis genommen worden waren, obwohl ihm daran gelegen haben muss. Denn ohne Erfolg soll er noch kurz vor dem Tod seinen Adlatus Constantin Christian Dedekind ermutigt haben die Motetten mit einer Ad-libitum-Instrumentierung zu versehen, wie er es von dem geschätzten Michael Praetorius kannte. Doch der Zeitgeschmack hatte sich gewandelt, und der Schwanengesang galt für die Nachwelt Jahrzehnte als unwiederbringlich verschollen.
Erst im Jahre 1900 geschah das Wunder. In der Neißestadt Guben war man bei einer Generalinventur des Pfarrarchivs der dortigen Stadt und Hauptkirche auf sechs der ursprünglich neun Stimmbücher des gewaltigen Opus ultimum von Heinrich Schütz gestoßen. Der bekannte Schriftsteller Stefan Zweig konnte 30 Jahre später in einem Kölner Antiquariat ein siebentes Stimmnbuch mit der Orgelstimme erwerben. Doch nach dem zweiten Weltkrieg waren diese Funde wieder spurlos verschwunden. Über dreißig Jahre später konnte sie Wolfram Steude in der Landesbibliothek Dresden unter zurückgekehrtem aber noch nicht archiviertem Auslagerungsgut wieder aufspüren. Die zwei fehlenden Stimmbücher, Sopran und Tenor aus Chor II , blieben weiterhin verschollen. 1981 gab es in Dresden die erste von Wolfram Steude rekonstruierte Uraufführung des polyphonen Meisterwerks und 1984 erfolgte der Erstdruck innerhalb der „Neuen Schütz Ausgabe“ im Deutschen Verlag für Musik in Leipzig.
Hans Christoph Rademann, der Vorgänger von Justin Doyle als Chefdirigent des Rias Kammerchores, hat im Jahr 2000 eine Aufnahme mit dem Dresdner Kammerchor und dem Ensemble „Alte Musik Dresden“ im Label Raumklang herausgebracht, die die Leipziger Edition von 1984 zur Vorlage hatte. Sie zählt in ihrer bewegten Schlichtheit bislang zu meinen ganz besonderen Schätzen.
Inzwischen veröffentlichte 2017 der Carus Verlag in Stuttgart eine quellenkritische Schützausgabe mit den Ergänzungen ihres Herausgebers Werner Breig, der sich Justin Doyle und Katharina Bäuml für ihren Abend zur Saisoneröffnung des Rias Kammerchores verpflichteten. Sie konnten damit dem grandiosen ergänzten Torso durch eine facettenreichere Instrumentierung der Singstimme ein neues farbenreiches Klangsspektrum verleihen.
Der hochartifiziellen Musik von überzeitlicher Gültigkeit des Heinrich Schütz haben Werke von Giovanni Gabrieli, Michael Praetorius und Giovanni Bassano einen zusätzlich erhabenen Glanz verliehen.
Maria Brigitte Hanke